Das Wort zum Sonntag #3

andi
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الفياجرا
gossip
Zelluloid.
© Johanna Lamprecht

 

     "Wann haben wir eigentlich damit aufgehört, die Dinge mit unseren Augen zu betrachten?“, murmelte M. kaum hörbar, eine verstaubte Pappschachtel auf ihrem Schoß.

„Wie meinst du das?“, fragte J. ohne von seiner Zeitschrift aufzublicken.
M. holte einen dicken Stoß Fotos aus der Schachtel und schüttete ihn vor sich auf dem Fußboden aus. Sie rührte in dem Berg aus Zelluloid und Ansichtskarten, manche Bilder überfliegend, an anderen kurz mit dem Blick hängenbleibend und doch mit gespitzten Lippen weitersuchend.
     „Ich meine, es ist schon interessant. Wir fotografieren und konservieren diese Welt, wie sie uns gefällt und schütteln sie wie ein Polaroid, bis das Bild schlussendlich unserer Vorstellung der Wirklichkeit gleicht. Andernfalls landet es, wie alles andere Unanpassbare, im Müll.“
     Jetzt blickte J. auf und schaute sie fragend an. Ehe er etwas sagen konnte, fuhr M. fort:
„In diesem Moment ertaste ich ein Stückchen Vergangenheit, kann diese Zeit mit all meinen Sinnen erfassen - fast, als wäre sie tatsächlich greifbar. Ich rieche das abgegriffene Papier, schmecke das getrocknete Salz noch neugieriger Finger. Und auf der Rückseite lese ich allerlei Bekenntnisse, Schwüre und dergleichen - zerronnen und längst obsolet. Wenn ich jetzt zurückdenke, ist da eine andere Welt. Irgendwie, als blicke man durch ein Kaleidoskop, ein Auge geschlossen, den Atem wie ein Kind angehalten. Wenn ich ehrlich bin, erkenne ich diese Leute auf den Bildern nicht wieder. Ist es nicht so, dass man immer versucht ist, auf Fotos glücklich auszusehen?“
     „Ja, mag sein“, sagte J. und schaute aus dem beschlagenen Fenster, „aber warum sollte man auf Fotos auch unglücklich aussehen wollen?“

     Er nahm einen Schluck aus seiner Tasse und verzog das Gesicht. Der Kaffee war kalt geworden. Er schob ihn demonstrativ zur Seite und erklärte sich: „Ich für meinen Teil könnte gut mit der Illusion leben, in der Vergangenheit glücklich gewesen zu sein.“
     „Was heißt, du könntest gut mit dieser Illusion leben? Während du dies ausspricht, gibst du dich doch schon längst einer Illusion hin.“
     „Ja, aber einer Illusion, mit der man leben kann.“
„Mit der Du leben kannst.“, sagte M.

„Mit der Ich leben kann.“, sagte J.

 

andi
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