12.06.XXXX
Ich stehe im Stau an der Supermarkt-Kassa, schreibe das hier am Rücken meines Vordermanns.
„Sagen’S einmal, gibt’s keine zweite Kassa?“, rülpst mir die Alte hinter mir in den Nacken. "Zweite Kasser!", brüllt sie geschert und das Odeur von Muskat erfüllt meinen Radius, dick und schwer. Paul Unger und seine neue Freundin Ruth (Ruß) haben heute zum Essen geladen, es gibt Fondue. Wieder einmal ein außerordentlich gut gesetzter Schachzug von Unger, der nur noch zu diktieren braucht, was man mitzubringen hat. So zieht der geizige Penner seinen Kopf wie gewohnt aus der finanziellen Schlinge. Mir wurde Fleisch diktiert, FLEISCH. An der Fleischtheke hat sich vorhin ein Herr von einfältigstem Schlag vorgedrängt, jedenfalls trug er Blaumann. „Du, mach mir schnell zwei Extrawurstsemmeln mit Extrawurst und Gurkerl“, hat er die Wurstfachverkäuferfrau geduzt, als müsse er die Verwandtschaft ihrer Stände klar offenlegen. Irgendwie hat er es auch noch geschafft, besagte Beziehung spielen zu lassen, jedenfalls befindet er sich in der Schlange nebenan, jener in Bewegung. Ich hingegen bin eingekesselt von welkem Fleisch, das sich langsamer fortbewegt als es verrottet. Alte Menschen scheinen als Kollektiv hinter den Sinn des Lebens gekommen zu sein, nämlich die Lebenszeit des jungen Menschen zu verschlingen und zu verdauen. Somit schließe sich der Kreis. Der alten Menschen alles unterjochende Gemächlichkeit zwingt auch das Junge, Wiedergeborene zur Gemächlichkeit. Wir sind geboren um zu Warten. Vielleicht nicht auf den Tod aber auf alles dazwischen. Wartend warte ich nun auf viel zu viel Kleingeld, das leise vor sich hin klimpert und letzten Endes doch zu wenig ist. „Oh Gott, nehmen Sie meinen Euro, ich flehe Sie an, nehmen Sie ihn. Ich erkaufe mir damit ein bisschen Zeit von ihnen, ein bissen Leben!“ Ich schreie, reiße eine Tüte Chips auf, die im Wagen hinter mir gelegen hat, und lasse das Fett auf die wartende Menschheit niederprasseln. Als ich mich wieder beruhigt habe, merke ich, dass mich niemand zu beachten scheint. Das Piepsen des Barcode-Scanners treibt mich in den Wahnsinn. "Biebiep, Biebiep", biebiebt es unaufhörlich wie kalte Tropfen auf die Stirn des Gefolterten. Endlich an der Reihe erspähe ich aus dem Augenwinkel wie die alte Dame von vorhin - einen schlurfenden Schritt davon entfernt, diesen befleckten Ort zu verlassen - halt macht und ungläubig auf ihren Kassenzettel stiert. Ihre Züge zerfließen zu einer teigigen, klebrigen Masse, färben sich käseweiß, dann käsegelb, dann schleimhautrot und setzen sich wieder zusammen. Sie wühlt in ihrem Einkaufswagen und birgt eine weiße Papiertüte, die sie wie in Raserei abtastet. Sie reißt den Mund auf und stürmt auf das Kassafräulein zu, das gerade dabei war, sich meiner, meiner, meiner, dem einäugig Wartenden unter den Blinden, zu erbarmen.
"Fräulein? Fräulein! Bitte, schauen Sie her. Fräulein, schauen Sie her. Hier auf der Rechung steht 'Bio-Kornbaguette, 1,69 Euro'. Dort hinten bei dem Gebäck war jedoch ein Schild, auf dem gestanden ist: "Aktion: Bio-Kornbaguette, 1,49 Euro'. Bitte, wie kann das sein? Wie ist das möglich?"
"Schauen wir gleich", sagt das Fräulein und begleitet die Dame an der Hand zu besagtem Schild.
Und ich weiß, während ich hier warte, wartet auch Unger. Nämlich darauf, dass seine Fondue-Diktatur endlich Früchte trägt. Ausgezeichneter Schachzug, Unger. Ausgezeichneter Schachzug.