Buchtipp | Mary Scherpe - An jedem einzelnen Tag

laura
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"Mein Leben mit einem Stalker"

Mary Scherpe gehört mitStil in Berlin zu den bekanntesten BloggerInnen Deutschlands. Kaum jemand, der ihr Gesicht nicht kennt. Das beschränkt sich längst nicht mehr nur noch auf die Netzwelt. Beinahe logisch, dass man sich so manchmal vielleicht ein wenig beobachtet fühlt und auch das ein oder andere Mal mit Anfeindungen zu kämpfen hat. Die sogenannten Trolls kennen schließlich selbst Blogger mit kleiner Reichweite. Doch in Marys Fall hat das längst nicht mehr nur noch etwas mit den üblichen verbalen Attacken zu tun, die einem in der Anonymität des Netzes nun einmal so begegnen. Denn sie hat einen Stalker. Seit 2012 verfolgt eine Person auf Schritt und Tritt ihr Leben, kommentiert nahezu alles, persifliert und attackiert sie. Angefangen hat alles mit einem Instagramprofil, dass unter dem Namen „Maria Scherge" bzw. "Marianne von Schelpe“ auf praktisch jedes von Mary veröffentlichte Foto eine Antwort fand. Das war manchmal absurd, oft aber einfach nur ziemlich geschmacklos. Anders lässt sich das Bild einer Frau mit Plastiktüte über dem Kopf – das Profilbild des Accounts – nur schwer beschreiben. Nach und nach weiteten sich die Aktionen aus und schnell gab es keine Plattform mehr, auf der ihr Verfolger nicht aktiv war. Egal ob Twitter, Facebook oder Instagram, selbst ihr eigenes Blog und ihr Mailaccount blieben und bleiben bis heute nicht verschont. Von den nächtlichen Anrufen und unzähligen SMS ganz zu schweigen. Und als wäre das nicht schon genug der Belagerung, versucht der Stalker sich immer wieder Marys Identität zu bemächtigen, um sie so bei Kunden, Kollegen und Freunden schlecht zu machen.

 

Bereits zwei Mal hat Mary inzwischen gegen ihren Stalker – diese Person, mit der sie einst eine Beziehung hatte – geklagt. Zwei Mal hat sie verloren. Beide Verfahren wurden eingestellt. Ein Kampf, der jedes Mal aufs Neue viel Kraft kostet, der sie zwingt die ganze Geschichte noch einmal von vorne aufzurollen, der bitteren Wahrheit ins Auge zu blicken. Lange hat sie sich davor versperrt, wollte es nicht an sich heranzulassen. Stalking das passiert, wenn überhaupt, nur anderen. In Gesprächen mit Freunden und Bekannten wird Mary allerdings schnell bewusst, die Liste der Betroffenen ist länger, als sie anfangs dachte und auch in ihrem unmittelbaren Umfeld sind die Erfahrungen mit Stalking groß. Sie selbst will zunächst stark bleiben, die Angelegenheit ignorieren, frei nach dem Credo „Don´t feed the Trolls!“ und auch ihre Mitmenschen, will sie mit der vermeintlichen Lapalie nicht belästigen. Vielleicht nimmt sie das Ganze auch einfach nur zu ernst. Schließlich versicherte man ihr bei Twitter und Instagram nach unzähligen, oft im Sande verlaufenden Mailverläufen, dass die Konten des Stalkers nicht gesperrt werden könnten, da sie nicht gegen die Datenschutzbestimmungen und Rechtsgrundlagen der sozialen Plattformen verstößen. Ironie und Sarkasmus seien legitime Ausdrucksmittel im Netz. Dem Opfer dieses Humors sind meist die Hände gebunden.

 

Doch was, wenn die vermeintlich temporäre Spanne zu einer gefühlten Ewigkeit wird, der Terror nicht aufhört und man irgendwann erkennen muss, dass es nur mit gutem Willen kein Herauskommen aus der Situation gibt? Was, wenn das permanente Sich-Beobachtet-Fühlen, all die Kritik und Beleidigungen, die einem täglich entgegenschlagen, irgendwann nicht mehr ausgeblendet werden können und anfangen an einem zu nagen; einen vielleicht sogar innerlich beginnen aufzufressen, wie es der ein oder anderen Freundin ergangen ist. Mary jedenfalls will sich nicht verkriechen und dem Stalker kampflos ihr Leben überlassen. Das geht schon allein deswegen nicht, weil das Sichtbarsein in der virtuellen Welt unmittelbar an den Verdienst ihres Lebensunterhalt geknüpft ist. Sie beginnt sich zu wehren und ruft schließlich den Tumblr „Eigentlich jeden Tag“ ins Leben. Dort postet sie von nun an alle Nachrichten, Bilder und Kommentare, mit denen der Stalker sie tagtäglich belästigt. Hier veröffentlicht sie auch Schnappschüsse von all der Post, die sie regelmäßig in ihrem Briefkasten findet. Von Babynahrung über Kunstrasen, Probeabos, bis hin zu Dachziegeln ist alles dabei. Es ist grotesk, doch zum Lachen ist ihr längst nicht mehr zumute. Nach allem, was bis zu diesem Punkt passiert ist, wird der Tumblr für sie zum Ventil, zur Möglichkeit alles zu verarbeiten und vor allem stellt er eine Art Umkehrung des Prinzips dar. Nun greift sie den Stalker an, wendet seine eigenen Waffen gegen ihn, indem sie sein mehr als trauriges Verhalten öffentlich zur Schau stellt.
Auch das von ihr vor einigen Wochen veröffentlichte Buch folgt diesem Duktus. Zum ersten Mal gibt sie ihre Situation dort auch inhaltlich der Öffentlichkeit preis ohne auf auch nur ein nagendes Detail zu verzichten. Wort für Wort kämpft sie gegen das Stalking an und macht zugleich auf eine Lücke im deutschen Rechtsstaat aufmerksam, die Stalker in ihrem Handeln beinahe unterstützt, während sie den Opfern die Hände bindet. Dahinter die klare Botschaft: So kann es nicht weitergehen.

 

Doch warum scheinen so viele Stalkingopfer eigentlich machtlos gegenüber ihren Verfolgern zu sein und dem was ihnen da angetan wird? Laut Gesetzesgrundlage kann ein sogenannter Stalker zunächst erst einmal nur dann überhaupt belangt werden, wenn seine Identität eindeutig ermittelt wird. Der Verdächtige, der sich weigert auszusagen und das ist das gute Recht eines jeden Bundesbürgers, wenn er sich anders selbst belasten müsste, ist meist erst einmal fein raus. Sollte die Suche nach dem Täter doch erfolgsbringend sein, muss im nächsten Schritt aber erst einmal die maßgebliche Beeinträchtigung des eigenen Lebens durch den Stalker nachgewiesen werden. Wörtlich besagt der sogenannte Paragraph 238: „Wer einem Menschen unbefugt nachstellt (...) und seine Lebensgestaltung schwerwiegend beeinträchtigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft.“ Anders ausgedrückt: Nur wer wirklich seelisches oder körperliches Leid nachweisen kann, hat überhaupt erst eine Chance sich gegen seinen „Peiniger“ zu wehren. Mary zumindest ist heute davon überzeugt, dass es ein Fehler war, sich gegenüber den Behörden stark zu geben. Bleibt die Frage, liegt des Pudels Kern am Ende aber nicht an ganz anderer Stelle begraben? „Im Jahr 2010 wurden 27.000 Nachstellungsdelikte angezeigt, 22.000 Täter wurden ermittelt aber nur 414 wurden verurteilt“, zitiert das Buch an einer Stelle die Statistik. Das entspricht knapp 12% der deutschen Bevölkerung die sich mit Stalking konfrontiert sehen. Wie hoch die Dunkelziffer ist, es lässt sich nur erahnen. In der Regel seien Frauen häufiger betroffen als Männer, wobei nicht selten, ein Expartner oder jemand, mit dem sich eine Beziehung angebahnt hat, der Täter ist.

 

 

Während es im realen Leben laut besagtem Paragraph aber schon schwer genug scheint, sich gegen eine solche Person zur Wehr zu setzen, wird es im Netz beinahe zu einem Ding der Unmöglichkeit. Nicht nur, dass Twitter, Instagram und Co. in der Regel sehr schwammige Formulierungen bezüglich ihrer Nutzungsrechte und deren Verletzung haben. Selten bekommt man im Falle einer Meldung keine Reaktion des Supports. Totstellen scheint die eine Taktik dieser Unternehmen, die andere sind Standardantworten, á la „blocken sie den entsprechenden Nutzer“In Marys Fall erfolgt ein Großteil der Beleidigungen online. Das ist das essentielle Problem. Der vermeintliche Internetexperte auf der zuständigen Wache verfügt nicht einmal über eine private Emailadresse. Das Web ist seiner Meinung nach etwas, aus dem man sich ja bewusst raushalten könne. Die Ironie wird deutlich, wenn man an Marys oben bereits erwähnten Weg des Verdienstes denkt. Und ohnehin, dreht man ihr wirklich einen Strick aus der Tatsache, dass der Stalker sie nicht im realen Leben belästigt, hinter der nächsten Ecke lauert und versucht sie tätlich anzugreifen? Das Ganze scheint absurd! Denn selbst ihrer Freundin, der ihr Verfolger bereits durch Berlin nachgelaufen ist, hat ein Verfahren nichts gebracht. Es wurde eingestellt, genau wie in Marys Fall. Polizei und Staatsanwaltschaft greifen also eigentlich erst dann ein, wenn in der Regel schon etwas vorgefallen ist. 

 

Doch was tun? Sich wirklich mit der eigenen Situation abfinden? Däumchen drehen und hoffen, dass der Terror irgendwann aufhört, die Angst verschwindet und man wieder ein normales Leben führen kann? Ein Schlag ins Gesicht für all jene, die sich täglich aufs Neue bedroht fühlen müssen. Auf change.org hat Mary zeitgleich mit dem Erscheinen ihres Buches eine Petition ins Leben gerufen, die dazu aufruft, besagten Paragraphen 238 zu ändern, um Opfern zukünftig mehr Schutz und die Möglichkeit der Gegenwehr zu bieten. Bestrebungen dazu hat es seitens der Bundesregierung bereits gegeben, höchste Zeit also die Damen und Herren in der Politik an ihr Vorhaben zu erinnern. Ob man unterschreiben mag oder nicht, bleibt am Ende natürlich jedem selbst überlassen. Doch sollte man sich einmal die Frage stellen, wie viel man persönlich aushalten könnte, wenn man selbst in diese missliche Lage geräte? Was würde es für einen selbst bedeuten, gestalkt zu werden und bei aller Bemühungen am Ende keine Hilfe zu erhalten. Marys Buch gibt dafür jedenfalls so einige Denkanstöße.  

 

Mary Scherpe: An jedem einzelnen Tag. Mein Leben mit einem Stalker. Köln: Bastei Lübbe 2014. ISBN: 978-3-404-60829-4

    AUTHOR:
    LAURA SODANO

    Lebe lieber ungewöhnlich.

    Mode. (Pop-)Kultur. Feminismus. Was für die einen nach Schizophrenie par Exellence klingen mag, ist für sie selbstverständlich. Die Dame, die mindestens so gerne und schnell redet, wie sie denkt, sprudelt nur so vor kreativem Kopfchaos, von dem ihr Umfeld selten verschont bleibt. Sprache ist ihr Medium. Das nuancierte Spiel mit pointierter Artikulation ihre Waffe. Schokolade ihr Laster. Bei Mode und Literatur setzt ihr Verstand nur zu gerne aus.